Erfahrungen einer europäischen Jugenddelegation in Nordkurdistan
Vom 20. März bis 06. April 2024 bin ich als Teil einer internationalistischen Jugenddelegation nach Bakur/Nordkurdistan, in die mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiete im Südosten der Türkei, gereist. An der Reise, organisiert von „Ronahi – Youth Center for Public Relations“ und der Youth Assembly der DEM-Partei, nahmen junge Internationalist*innen aus Deutschland, Italien, Slowenien und Finnland teil. Ziel der Delegation war, Einblicke in die Kultur und die politische Organisierung der kurdischen Bewegung in diesen Gebieten, die vom türkischen Staat kontrolliert werden, zu erhalten und das Wissen in unsere Länder und unsere politischen Organisationen weiterzutragen. In den über zwei Wochen sind wir durch weite Teile Nordkurdistans gereist und haben viele Politiker und Vertreter von Organisationen der Zivilgesellschaft getroffen – z.B. Familien von politischen Gefangenen, Frauen-Assoziationen oder Anwälte. Alles, was wir gesehen, gehört und gelernt haben, würde den Rahmen dieses Textes sprengen – deshalb möchte ich mich auf einige der Erlebnisse, die mich am stärksten beeindruckt und beeinflusst haben, konzentrieren.
Schon der erste Tag nach unserer Ankunft ist unvergesslich: Wir hatten die unglaubliche Gelegenheit, die Feierlichkeiten für Newroz in Amed, der „Hauptstadt der Kurden“ mitzuerleben. Es gibt wohl keinen besseren Ort, um diesen Tag, an dem das kurdische Volk unter Beweis stellt, dass ihre Kultur und ihre politische Überzeugung der demokratischen Selbstverwaltung trotz der massiven Repression so lebendig ist wie eh und je, zu feiern: Obwohl der türkische Staat in der ganzen Stadt mit Wasserwerfern sowie zahllosen Polizisten und Soldaten mit Gewehren im Anschlag präsent war und seine Macht demonstrieren wollte, strömten Hunderttausende Kurden zu den Feierlichkeiten. Das Geschehen auf der Bühne, wo Vertreter der DEM-Partei sprachen und Sänger auftraten, war beinahe nebensächlich im Vergleich zu den Menschen in der Menge, die unablässig gemeinsam Lieder anstimmten und riesige Halay-Kreise bildeten. Wir Internationalist*innen wurden dabei so offen und herzlich aufgenommen, wie man es sich nur erträumen kann: Von allen Seiten wurden wir aufgefordert uns zum Tanzen einzureihen, wurden uns Liedtexte beigebracht, Fahnen in die Hand gedrückt und Zigaretten angeboten. Sich an einem fremden Ort, umgeben von unbekannten Menschen, so wohl zu fühlen, war für mich alles andere als gewöhnlich, und ich habe das schöne Gefühl mitgenommen, eine Kultur nicht nur zu beobachten, sondern Teil von ihr zu werden.
Ein zweiter Punkt, der starken Eindruck auf mich gemacht hat, ist die Art und Weise, wie sich Gefängnis-Erfahrungen durch die kurdische Gesellschaft ziehen – und wie stark der Gefängniswiderstand ist. In Bakûr sitzen mehrere tausend Kurden aus politischen Gründen im Gefängnis. Viele Politiker und Aktivisten, die wir getroffen haben, hatten bereits Gefängnisstrafen verbüßt – es wurde schnell offensichtlich, dass jeder, der in der Bewegung aktiv ist, früher oder später die Wahl zwischen Gefängnis und Exil hat. Der türkische Staat versucht mit dieser Repression systematisch, die kurdische Bevölkerung einzuschüchtern und die Zustände in ihrem Land stillschweigend zu ertragen (oder es zu verlassen). Dadurch, dass viele Menschen Geschwister, Kinder, Eltern, Freunde haben, die im Gefängnis sind, ist das Gefängnis als Ort stark im Bewusstsein der Bevölkerung verankert. Es ist kein stigmatisierter Ort wie in Deutschland, sondern ein zwar ungeliebter, momentan aber unausweichlicher Bestandteil der politischen Organisierung. Deshalb ist auch die Bedeutung des Gefängniswiderstandes so groß: Sich der Repression, oft sogar der Folter, nicht stumm und alleine auszuliefern, sondern im Gefängnis eine gemeinsame Organisierung und solidarische Unterstützung der Gefangenen aufrechtzuerhalten, ist enorm wichtig für die Moral und weitere Organisierung nach Gefängnisaufenthalten. Auch Aktionen wie Hungerstreiks kommen nach wie vor vor: Aktuell befinden sich viele politische Gefangene in Bakûr seit Ende November 2023 im Hungerstreik für die physische Freiheit von Abdullah Öcalan sowie für bessere Haftbedingungen für alle politischen Gefangenen. Hungerstreikende Gefangene begeben sich in eine besonders exponierte Situation, oft werden sie im Gefängnis mit zusätzlichen Maßnahmen wie der Isolation von anderen Gefangenen bestraft. Auch wird die Untersuchung durch Ärzte oft verweigert oder hinausgezögert – oft schulen deshalb Ärzte die Anwälte der Gefangenen darin, auf welche mögliche Anzeichen von gesundheitlichen Problemen sie bei Besuchen achtgeben sollen.
Der Gefängniswiderstand wird auch außerhalb des Gefängnisses unterstützt. Ein besonderes Treffen hatten wir als Delegation mit den „Friedensmüttern“, den Müttern von politischen Gefangenen oder Gefallenen, die sich gemeinsam organisieren und ihre Kinder im Gefängnis unterstützen. Die Gruppe, die wir getroffen haben, bestand aus Müttern von Hungerstreikenden, die sich während des Hungerstreiks jeden Tag treffen und regelmäßig Aktionen wie Märsche oder Sitzstreiks durchführen. Wie entschlossen und stark diese alten Frauen auftreten, war mehr als beeindruckend.
Ein letzter Punkt, der große Wirkung auf mich hatte, ist die Ethik und Moral der Genossen aus der kurdischen Bewegung dort. Das gilt nicht nur für die Unerschütterlichkeit gegenüber der staatlichen Repression, sondern genauso für ihre Herangehensweise an die Gesellschaftsarbeit, den Umgang mit kurdischen Familien: Als Apoisten haben sie den klaren Anspruch, die Gesellschaft, die Persönlichkeiten zu verändern, um seit Jahrtausenden verfestigte Strukturen wie patriarchales Verhalten in Familien aufzubrechen und zu überwinden. Ihr Vorgehen dabei ist aber nie bevormundend oder belehrend, sondern immer von großem Respekt vor den Menschen geprägt und zeichnet sich eher dadurch aus, sie Schritt für Schritt auf ihre Seite zu ziehen. Inspirierend für mich ist vor allem der Ansatz der Kader, ihre Werte weniger durch lange Worte als durch ein konsequentes Vorgehen in allen Aktionen auszudrücken: In jeder Handlung, jeder Interaktion, ob mit Genossen oder nicht-organisierten kurdischen Familien, liegen eine starke Ethik und Moral, eine besondere Art der Propaganda der Tat.
-David Fontaine
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