„Am 1. April 1995 bin ich als Gehilfe eines deutschen Kameramanns für ein Interview mit Abdullah Öcalan in den Mittleren Osten gereist. Die Guerillakämpfer in der zentralen Parteischule der PKK habe ich während der Zeit des Interviews näher kennengelernt. Nach diesem Interview mit Abdullah Öcalan, welches zugleich meine erste bedeutungsvolle Arbeit darstellt, habe ich mich dazu entschlossen, nicht zurückzukehren und meine Lebensreise hier fortzusetzen. Mein Leben findet seitdem in den Bergen Kurdistans, gemeinsam mit den kurdischen Freiheitskämpfern statt.“
Der Weg ist der Ort, an dem wir beginnen, uns selbst und unser Gegenüber kennenzulernen. Hierfür müssen wir nur einmal den Beschluss gefasst haben, uns auf den Weg zu machen und den ersten Schritt zu gehen. Wir müssen nur einmal den Mut aufgebracht haben, unseren Blick auf den Weg zu richten. Wir müssen uns nur einmal erträumt haben, den Ort, dessen Gefangener wir sind, zu verlassen. Einmal nur muss die Euphorie, etwas Neues zu finden, etwas zu entdecken, unser Inneres füllen. Einmal nur müssen wir den Beschluss fassen, uns auf die Suche nach uns selbst zu begeben, und uns auf den Weg machen…
Dann wird sich der Weg mit all seiner Gutmütigkeit vor uns ausbreiten. Der Weg ist stets für jeden offen. Er stellt vielleicht gar den einzigen Ort auf Erden dar, der uns alle mit offenen Armen erwartet und den Menschen zu sich selbst führt.
Gibt es etwas Schöneres als die Selbstentdeckung? Ist der Mensch selbst nicht der schönste Edelstein auf Erden? Und ist die schönste Reise unseres Lebens nicht die Reise zu uns selbst? Bisher haben wir uns doch eigentlich gar nicht wirklich vorwärtsbewegt. Die Wege, auf die wir uns in den Städten aus Beton begeben haben und die stets zum Beginn zurückführen, sind nicht unsere. Nicht einer dieser Wege hat uns zu uns selbst geführt. Wir haben diese Städte, die nicht uns gehören, immer aus der Ferne betrachtet. Wir waren stets Fremde. Stehen wir zu Abend vor derselben Türe, aus der wir morgens getreten sind, heißt dies, dass wir nicht vorangekommen sind.
Das erste, was ein Guerilla, der neu in den Bergen ist, kennenlernt, sind die Schmerzen des Laufens. Jeder einzelne Schritt treibt nicht aushaltbare Schmerzen in unseren ganzen Körper. Wir wundern uns dann darüber, dass unsere Füße so kraftlos sind. Dann erst merken wir, dass uns die Straßen aus Beton getäuscht haben.
In unseren ersten Tagen in den Bergen lernen unsere Füße, unsere Schultern und unsere Arme einen nicht aushaltbaren Schmerz kennen. Bei jedem Schritt krümmt sich unser ganzer Körper vor Schmerz. Wir glauben dann, dass wir diesen Schmerz nie wieder loswerden. Wir richten den Blick auf die vor uns liegenden Bergketten und verlieren fast die Hoffnung. Dabei verfliegen auf diesen Wegen alle Lasten, die nicht zu uns gehören. Schritt für Schritt fallen unsere Masken ab und bleiben auf den Pfaden, über die wir gehen, zurück. Stück für Stück lassen wir auf den Abhängen der Berge das Leben, das uns seit Tausenden von Jahren aufgedrückt wird, zurück.
Während wir auf den Wegen der Berge marschieren können, spüren wir, wie uns unser Körper Glied für Glied verlässt. Wir fühlen, wie die Schale, die Körper und Seele umfasst, zerbröckelt. Dieser Schmerz ist nicht auszuhalten. Wir fühlen, wie wir uns distanzieren. Wir merken, dass wir etwas zurücklassen. Das ist unsere Auflösung.
Wir gehen und gehen und fühlen, dass wir uns etwas nähern. Wir fühlen, wie sich Körper und Seele etwas hinzufügt. Das ist unsere Entstehung. Während sich etwas von unserem Körper und von unserem Geist löst, fügt sich etwas Neues hinzu. Unsere Füße stoßen auf Fels und Stein und bluten. Unsere Kleidung verhängt sich an Sträuchern und zerreißt. Hände und Gesicht verletzen sich an dornigem Kraut. Müdigkeit überfüllt unseren gesamten Körper. In diesen Momenten, an denen wir glauben, dass alles zu Ende ist, geben uns unsere Genossen Halt.
Dann hält jemand inmitten der Dunkelheit unsere Hand und zieht uns langsam hinter sich her. Ein anderer teilt sein Brot, gibt einen Schluck Wasser. Unser Weg führt uns an einen Fluss. Alle springen auf die andere Seite. Aber wir schaffen es nicht. Wir trauen uns nicht, vertrauen nicht auf unsere Füße. Dann strecken die Freunde auf der anderen Seite des Flusses ihre Arme aus und rufen uns zu. Wir halten kurz inne, sammeln unsere ganze Kraft, atmen tief ein und springen dann. Schon sind wir am anderen Ufer. Wir haben uns getraut! Wer hätte das geglaubt!
Während wir so weiterlaufen, fühlen wir in unseren Füßen eine Veränderung.
Sie beginnen in dunklen Nächten ihren Weg von selbst zu finden. Wir können es nicht glauben. Sind das unsere Füße? Von nun an sehen unsere Augen alles, hören unsere Ohren jedes Geräusch. Nach unserem Körper beginnt sich unser Herz zu verändern. Auch unsere Sehnsüchte, unsere Träume verändern sich. Wir sehen jetzt eigene Träume. Wir können Körper und Seele wirklich fühlen. Jetzt sind wir wir selbst! Unsere Seele hat ihre Schale verlassen. Unser Körper hat sich von seinen Ketten gelöst. Unsere Träume gehören uns. Und der Weg, über den wir laufen, ist unserer. Er wird uns an neue Horizonte führen. Während wir voller Aufregung über die Wege der Berge laufen, erblicken wir Horizonte, die wir auf den Straßen zwischen Gebäuden aus Beton niemals gesehen haben, niemals hätten sehen können. Das ist der Augenblick, an dem wir realisieren, dass es sich beim Horizont nicht um eine Linie in der Ferne handelt.
Je höher wir steigen, umso mehr erkennen wir, dass der Horizont nie derselbe ist und stets darauf wartet, entdeckt zu werden. Jeder Berg, den wir besteigen, bietet uns einen anderen Horizont. In den Bergen ist jeder Sonnenuntergang einzigartig. Kein Tag ähnelt dem anderen und endet wie kein anderer. Hier wiederholt sich nichts. Denn wir haben hierentdeckt, dass sich hinter jeder bestiegenen Höhe ein anderer Horizont befindet.
Für uns Kurden ist das Laufen, das Bewegen etwas Neues, das wir erst erlernen. Wir erlernen, Distanzen aufzubauen und Schritte voran zu machen. Zum ersten Mal versuchen wir neue Wege zu öffnen und uns auf unserem eigenen Weg voran zu bewegen. Nachdem wir Tausende von Jahren durch die Straßen der Zivilisation gelaufen sind, verlassen wir zum ersten Mal ihre Labyrinthe. Zum ersten Mal retten wir uns aus unseren Labyrinthen und blicken zu unserem eigenen Horizont. Diesen unseren eigenen Weg, unsere Haltung und unseren Blick auf das Leben geben wir nach all dem, was wir erlebt haben, nicht mehr her…
Şehîd Halil Dağ, Guerilla, Filmemacher, Journalist
1973-2008
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