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Unseren Weg unter den Sternen finden

Das demokratische Potenzial des Pfadfindertums

Während meiner Zeit als Aktivist in verschiedenen revolutionären Gruppen habe ich mich mehrmals mit Leuten getroffen, die in ihrer Jugend auch Pfadfinder waren. Und jedes Mal stellte sich mir die Frage: Wie kommt es, dass so viele Pfadfinder zu Aktivisten werden? Obwohl es in Frankreich 170.000 junge Menschen gibt, bleibt das Pfadfinden auf einige Prozent der Bevölkerung beschränkt. Man könnte meinen, dass die Antwort in dem sozialen Umfeld liegt, aus dem die meisten dieser Kinder stammen, die oft in Familien aufwachsen, die von einer linken politischen Kultur geprägt sind. Aber wir dürfen nicht verschweigen, welche Wichtigkeit die Pfadfinderlager für die Politisierung vieler junger Menschen haben. Diese Politisierung ist auf die Geschichte des Widerstands zurückzuführen, die von den verschiedenen Pfadfinderbewegungen auf der ganzen Welt getragen wird, aber auch auf die Erfahrungen/Beziehungen mit der Welt, die wir während der Zeltlager entwickeln, oder auch dank der verschiedenen Werkzeuge des kollektiven Lebens, die dort eingesetzt werden. In diesem Artikel werden wir dies anhand der Erfahrungen von Pfadfindern aus Frankreich, Deutschland und Italien näher beleuchten.


Der Widerstand der Pfadfinder in Deutschland


Rituale begleiten uns über eine Schwelle, vom Alten ins Neue. Sie sind Abschied und Begrüßung zugleich. Lieder sind als Rituale oft eingebunden in den Alltag, zum Beispiel Gutenacht-Lieder, die uns sanft vom Tag in die Nacht begleiten. Vom Hellen in die Dunkelheit, vom Wachsein in den Schlaf. Vom Bewusstsein ins Unbewusste. Rituale binden uns ein in den Kreislauf des Lebens.

Im Singen eines Lieds steckt also eine spirituelle Bedeutung, die uns Kraft und Mut schenkt, in ein Neues, Ungewisses überzugehen. Bestärken wir uns durch das Singen, bestärken wir uns auch in unseren Vorhaben und geben uns ein Verspechen, gemeinsam den Weg zu beschreiten. Aus unseren Worten folgt die Tat. So kam es, dass sich breite Jugendbewegungen während des Faschismus in Europa entwickelten, die ein tieferes und bedeutsameres Verständnis des Lebens hatten, als das System ihnen anbieten wollte. Daran können wir uns heute ein Beispiel nehmen: Je tiefer wir das Leben spüren und verstehen lernen, desto weniger lassen wir uns von einer oberflächlichen Bildern des Systems einnehmen.

Das Musizieren ist eine Pfadfindertugend. Bereits vor tausenden von Jahren haben wir Menschen rund um ein Feuer gesessen, gesungen und getanzt, um uns zu wärmen und unsere Gemeinschaft zu feiern. Kommuniziert wird hier auf anderem Wege: Wir schenken einander Lieder, Melodien, teilen Trauer, Wut und Glück, während uns das flackernde Licht umhüllt. Lieder sind auch eine Weise, Erfahrungen aus alten Generationen über Jahre hinweg weiterzutragen. Als Kinder lernen wir die seltsamen Töne und Gesänge kennen, lernen sie zu lieben und bringen sie später unseren Liebsten bei. Ob aus dem Herzen und Kopf oder mit Buch und Gitarre begeben wir uns in das gemeinsame Erinnern nie gekannter Menschen und Geschichten. Fremde Sprachen bringen wir uns bei, tiefe Freundschaft entsteht auf endlosen Zeltlagern, die nie vorbeigehen sollen.


Das Pfadfindertum ist in Europa international zu begreifen. Arbeitslieder, Kinderlieder und Wanderlieder aller Länder tragen sich über die Staatsgrenzen hinweg. Als es zur Zeit der Industrialisierung in Westeuropa zu Elend in vielen Großstädten kam, entstanden die ersten Jugendbewegungen, die sich der Natur wieder zuwenden wollten. Sie zeigten ihren selbstbestimmten und gemeinschaftlichen Lebensstil, indem sie ihn vorlebten. Durch die Klagelieder benachbarter Völker gelang ihnen ein Blick in die Zukunft zu uns, eine Analyse der Welt, wie sie sich entwickeln würde. Sie ließen sich nicht von den Angeboten des Kapitalismus heranlocken, denn sie wussten, welche Ausbeutung mit ihm einherging. 

Der Schmerz trieb sie in die Wälder.Dort wurden sie im Sinne des deutschen Wortes „Pfad-Finder“.

In jedem Land herrscht eine eigene Weiterführung unserer aller musik- und naturverbundenen Traditionen. In Ländern, in denen der Faschismus jeden Flecken Erde besetzen wollte, kam er dennoch nicht an die Herzen der Pfadfinder heran. Er sprengte ihre Bünde und ersetzte sie durch Jugendorganisationen, in denen Einheit Hass und Tod bedeutete. Pfadfinderschaft ist ihm ein Dorn im Auge, denn dort kann er die jungen Geister nicht manipulieren. Wer wahre Gemeinschaft übt und Bewusstsein für das Leben hat, ist dem Faschismus immer einen Schritt voraus. Während des Nationalsozialismus gingen viele Pfadfinder in Deutschland in den Untergrund, da sie als Mitglieder verbotener unabhängiger oder gar kommunistischer Organisationen verfolgt wurden. Andere wiederum ließen sich in die Hitler-Jugend überführen. Vor allem aus Deutschland, Frankreich und Polen sind Erzählungen widerständiger Pfadfinder:innen überliefert. In Einheiten weniger Jugendlicher spionierten sie die Besatzer aus, entwendeten ihre Flaggen und machten ihre Waffenverstecke ausfindig. Sie unterwanderten faschistische Jugendgruppen und organisierten antifaschistische Bildung im Untergrund. In diesen Geschichten sind es besonders junge Frauen, die sich mutig diesem Kampfe stellten. Sie leiteten Informationen weiter, versorgten die Verletzten und hielten die ihre Kultur und Tradition am Leben.


Nach dem zweiten Weltkrieg begannen erst langsam die ersten Organisationen, sich neu zu gründen und Pfadfinderschaft auf den Trümmern wieder zu erbauen. Durch die Studentenbewegung in den 1960ern gewannen sie an politischem Bewusstsein. Man findet sie seitdem in Anti-Atom-Protesten, in Friedensmärschen und Ökologie-Bewegungen. 

Wenn man sich heute an die Lagerfeuerkreise gesellt, hört man Lieder von Familien, die ihr Leben lang in Wägen reisen, oder von alten Volksstämmen, die auch heute noch in Europa zu finden sind. Ihre Lieder sind eine Inspiration und ein Funke des Widerstands für junge Pfadfinder:innen. Alle tragen sie eine Sehnsucht nach einem freien Leben in sich. 

Im 21. Jahrhundert leben junge Pfadfindern nach ihren eigenen Regeln: Sie wollen dem Konsum der westlichen Kapitalisierung entgegenwirken und in Einklang miteinander, mit sich selbst und mit der Natur leben. Sie organisieren sich unter weltweiten Dachverbänden und haben einen internationalen Blick. Doch nach wie vor ist der Widerstand der Pfadfinder nötig, denn auch der Liberalismus streut seine Ideen und die Wälder werden grauer. 

Daher lasst uns weitersingen!

Das Leben der Pfadfinder in Italien


“Flieg mit mir, mein kleiner Stern,

Eine rote Stille wird uns beleben,

Bleibst du bei mir, wirst du wissen,

Viele Flammen, Feuer der Sterne.“

 

Um das Feuer herum singen wir gemeinsam das Lied unserer Abteilung, das einige junge Leiter vor ein paar Jahren als Erinnerung an ihren Übergang geschrieben haben. Über uns der tiefblaue, mit Sternen übersäte Himmel, der jede Nacht Wächter über uns ist. Um uns herum sind die Berggipfel, der Bach, in dem wir baden, und die Lagerzelte.


Wir sind eine Gruppe von jungen Pfadfindern im Gebirgslager, das jede Abteilung (12 bis 16 Jahre) jeden Sommer als Abenteuer erlebt.


Die Leiter sind älter, zwischen 20 und 30, und begleiten die Jungen auf ihrem Weg des Wachstums, der Selbstentdeckung und des Zusammenlebens in Einfachheit. Das erste Prinzip ist, dass wir uns gegenseitig erziehen, und die Jungen und Mädchen entscheiden selbst, wie sie sich organisieren wollen, und zwar in einem größeren Maße, je älter sie werden. Die Leiter und die Jugendlichen, die ihnen helfen, haben die Aufgabe, ihnen das Handwerkszeug zu geben, sie zu motivieren und das Beste in ihnen zum Vorschein zu bringen, das sie hinter den Händen in den Taschen und der Lustlosigkeit oder dem schamlosen und respektlosen Verhalten sehen können. Das sehen sie hinter dem Einfluss der sozialen Medien und der Familien, in denen sie aufwachsen. Und schließlich müssen Führungskräfte konsequent sein, um glaubwürdig zu sein und das Vertrauen der Jungen und Mädchen zu verdienen.

Inmitten der kapitalistischen westlichen Gesellschaft ist das Pfadfinderleben eine Nische, die auf anderen demokratischen und freiheitlichen Werten beruht. Oder zumindest dort, wo es mit Kohärenz und Tiefe gelebt werden kann. In der liberalistischen Gesellschaft Italiens werden die Jugendlichen mit digitalen Medien bombardiert, und sie dösen ihre Kreativität in Videospielen und auf Tiktok aus. Bei den Pfadfindern hingegen wird das anders gehandhabt. Das spielerische Leben im Freien steht im Mittelpunkt der gemeinsamen Zeit, und wir schätzen es als den wahrhaftigsten Weg. Hier haben viele und viele die reinsten Freundschaften gefunden. Nicht wegen der Magie, sondern weil man in die Tiefe geht und gemeinsam lächelnd und singend durch Schwierigkeiten hindurchwächst. So sagte Lucia am letzten Abend des Camps: „Jeder von euch hat mir gezeigt, dass wir diese dumme Maske nicht brauchen, die uns die Gesellschaft aufzwingt, um wir selbst zu sein.”


Auf der Grundlage dieser Werte und Methoden haben sich die Pfadfinder während der 20-jährigen faschistischen Periode, in der die Pfadfinderorganisation aufgelöst und durch die junge Balilla ersetzt wurde, auf verschiedene Weise den faschistischen Gesetzen widersetzt. Das Halstuch der Gruppe, in der wir uns befinden, hat die gleichen Farben wie das der Aquile randagie (Streunende Adler), einer Gruppe, die von Jugendlichen aus den Gruppen von Mailand, Monza und Parma gebildet wurde, die ihre Aktivitäten im Verborgenen fortsetzten. Und als sich die Gelegenheit ergab, gründeten einige von ihnen die OSCAR (Scout Organisation - später ersetzt durch Soccorso - Collocamento Assistenza Ricercati), die mehr als 2.000 Juden, Dissidenten und anderen Menschen das Leben rettete.

Das ist es, was die Pfadfinder auf der ganzen Welt verbindet, über alle Grenzen hinweg. Und es könnte auch jeden Menschen auf diesem Planeten vereinen. Wir sehen, wie sehr wir das in der aktuellen Situation des dritten Weltkrieges brauchen, und wir sind uns bewusst, wie sehr das in erster Linie von uns abhängt und wie viel wir dafür tun. Deshalb laden wir auch alle anderen Pfadfinderinnen und Pfadfinder ein, ihr Bestes zu geben und diese Gespräche über Politik zu vertiefen, darüber, wie wir miteinander ein freies Leben in der Unterdrückung aufbauen können. Sich für andere zu engagieren, gibt dem Leben einen Sinn und ist die Lösung für den Verlust von gesellschaftlichen Werten.


In diesem Zusammenhang gibt es viel zu tun, denn das ständige Bombardement der profitorientierten Zivilisation will uns diese Werte nehmen, und der Konservatismus und Dogmatismus der Kirche treibt die jungen Menschen weg von einem Glauben, der vereinen und echt sein könnte, anstatt zu spalten. Der Individualismus und die Klassenmentalität zwingen uns dazu, aufzugeben, wenn es schwierig wird oder wenn es darum geht, diejenigen aufzunehmen, die aus schwierigen sozialen und familiären Verhältnissen stammen.


Die Straße, der Weg, ist eines der wichtigsten Symbole des Pfadfinderlebens. In jedem Moment des Lebens läuft man, um sich selbst und das Leben mit Anderen zu verbessern. In der Müdigkeit, im Gehen mit dem Rucksack auf dem Rücken, begreift man die eigenen tiefsten Bedürfnisse und die der anderen. Und es ist das Leben in der Natur, das uns mit denen in Verbindung setzt, die mit uns wandern. Dafür ist sie da.


„Diese Sternschnuppe ist ein Traum

Und dieses Nichts

- ein Kiesel von nur ein paar Zentimentern -

Lässt uns reisen in unserem Kopf

Und sagt uns: Halt kurz,

Bleib’ noch ein wenig unter diesem Himmel.“

-          Abteilung Sternenlicht

Selbstfindung durch die Pfadfinder in Frankreich


Das Leben in einer Gemeinschaft über mehrere Wochen hinweg macht das Camp zu einem besonderen Moment, in dem unsere Individualitäten zu etwas Größerem verschmelzen. Wir lernen zusammen zu leben, Entscheidungen gemeinsam zu treffen, Erlebnisse zu teilen und wir entwickeln eine Beziehung zu der Gruppe, die uns mehr Freiheit gibt als sie uns nimmt. Die Organisation der Gruppe wird durch Teamleben verstärkt, also einer kleineren Gruppe (5-6 Personen), mit der wir das Zelt, einige Mahlzeiten und Aufgaben teilen. Letztere werden fair zwischen den Teams verteilt, nach einer Rotation, in der jede:r weiß, was er oder sie jeden Tag für das reibungslose Funktionieren der Gruppe zu tun hat, und so auf sehr horizontale Weise funktioniert und die mentale Last des Kochen, Abwaschen, Wasser auffüllen usw. teilt.


Ein weiterer Mechanismus der Politisierung ist der Teamrat. Jeden Tag zur Pausenzeit wird jede:r eingeladen, das eigene Gefühl zur Atmosphäre im Camp, zur Beziehung zu den Leitern, zu der Qualität der vorgeschlagenen Aktivitäten usw. zu äußern. Der Teamrat ist ein Instrument, das kritische Denken der Jugendlichen und ihres Ideenreichtums weiterzuentwickeln, indem er sie auffordert, selbst Alternativen vorzuschlagen. Die Kritiken werden dann von den Sprechern über einen Sprecherrat weitergegeben. Auf politischer Ebene werden die Jugendlichen dazu aufgefordert, eine demokratische Gegenkraft zu den Entscheidungen der Verantwortlichen zu bilden, indem sie die Regeln in Frage stellen, um sie zu verstehen oder über sie hinauszugehen. Ich spreche hier nur über bestimmte Dinge, die mich in meinem politischen Aufbau geprägt haben. Aber es gibt andere, die genauso wichtig sind, wie die Wahl der Themen, die alle Aktivitäten des Lagers leiten werden, die Bedeutung, die dem Engagement und der Verantwortung beigemessen wird, oder der Fokus auf Dienste für Menschen außerhalb des Camplagers.

Viele Menschen, die zu ihrer ersten Bildung der Befreiungsbewegung Kurdistans kommen, haben daher den Eindruck, die Pfadfinderlager ihrer Jugend wieder zu erleben. Es gibt etwas Starkes, Kollektives, das diese Erfahrungen zusammenbringt und uns von der bedeutungslosen Existenz, die uns die kapitalistische Moderne bietet, entfernt und uns einer wahren Erfahrung des Lebens und der kollektiven Freiheit näher bringt. Allen Pfadfinderbewegungen ist gemeinsam, dass sie eine grundlegend antiliberale Erfahrung bieten. Der Kampf gegen den Liberalismus kann jedoch auch von reaktionären Kräften vereinnahmt werden und damit in einer zentralisierenden und reaktionären Mentalität der kapitalistischen Moderne verbleiben. Es liegt daher an uns, dieses Instrument zu ergreifen, es mit seiner demokratischen Geschichte zu verbinden und es in ein echtes Mittel zum Aufbau des Demokratischen Konföderalismus der Jugend zu verwandeln.

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